Wie ich es bereits im dritten Teil meiner Venedig-Reiseberichte anklingen ließ, führte der Rückweg nach Norden über die italienische Autobahn A22. Zwischenziel auf dieser Etappe, das Castello di Avio.
Aus der sonnenverliebten Tiefebene Norditaliens ging es hinauf ins weite Etschtal, das sich von Venetien über den Trentino bis nach Südtirol zieht. Gesäumt von den Gipfeln des Trentino, windet sich die Route stetig hinein in die alpine Landschaft.
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Unterwegs auf der Via Imperii
Die Strecke ist Teil der alten Nord-Süd-Achse durch die Alpen: der geschichtsträchtigen Via Imperii. Auch heute zählt sie zu den meistbefahrenen Routen durch das Hochgebirge. Der Brennerpass und das Etschtal waren schon im frühen Mittelalter bedeutende Handelswege – genutzt von Händlern, Pilgern und Armeen. Kein Wunder also, dass sich entlang dieser Passage eine Vielzahl von Burgen und Festungsanlagen finden lässt.
Zugegeben: Burgen zählen nicht zu den klassischen Lost Places. Doch gerade deshalb lohnt sich ein genauerer, fotografischer Blick – besonders, wenn die Geschichte so greifbar wird wie im Castello di Avio. Die eindrucksvoll erhaltene Anlage wurde 1977 von Emanuela di Castelbarco, einer Nachfahrin der einstigen Burgherren, an den Fondo Ambiente Italiano (FAI) übergeben. Seither kümmert sich die Stiftung um die behutsame Restaurierung und öffnet das mittelalterliche Ensemble für die Öffentlichkeit.
Doch der Zauber dieses Ortes erschöpft sich nicht in seiner malerischen Lage oder dem fotogenen Mauerwerk. Wer tiefer blickt, stößt auf ein Kapitel europäischer Geschichte, das sich hier wie in Stein gemeißelt offenbart. Denn das Castello di Avio war mehr als nur ein Zufluchtsort – es war ein strategischer Schlüsselpunkt über Jahrhunderte hinweg.

Castello di Avio – Geschichte und strategische Bedeutung
Das Castello di Avio – auch bekannt als Castello di Sabbionara – gehört zu den ältesten Festungsanlagen im Trentino. Teile der heutigen Anlage stammen noch aus dem 11. Jahrhundert. Hoch oben am Hang des Monte Vignola, über dem unteren Etschtal (Vallagarina), thront die Burg in beherrschender Lage mit weitem Blick über die Ebene bis nach Verona.
Die strategische Position war ideal: Im Rücken schützten die Berge, vor ihr breitete sich das Flusstal mit seinen Furten aus. Hier ließ sich der Nord-Süd-Verkehr über Jahrhunderte hinweg überwachen. Bereits zur Römerzeit führte die Handelsstraße Via Claudia Augusta, angelegt ab 15 v. Chr., durch dieses Tal – eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Mitteleuropa und der Mittelmeerregion.


Urkundlich erwähnt wurde die Burg erstmals im Jahr 1053 unter dem Namen Castellum Ava. Ab dem 12. Jahrhundert befand sie sich im Besitz der Adelsfamilie Castelbarco, Vasallen des Fürstbischofs von Trient. 1411 vermachten die Castelbarco die Festung testamentarisch an die Republik Venedig. Unter venezianischer Herrschaft wurde sie ausgebaut – mit einer dem Erzengel Michael geweihten Kapelle und reich geschmückten Fassaden, die die Wappen der Dogen trugen.
Nach Venedigs Niederlage 1509 fiel das Castello an die Habsburger. Kaiser Maximilian I. ließ sein Kaiserwappen anbringen und übergab die Burg als Lehen an die Grafen von Arco. In den folgenden Jahrhunderten wechselten die Besitzverhältnisse mehrfach, bis im 17. Jahrhundert die Familie Castelbarco das Anwesen zurückerhielt.

Zwischen Liebe und Krieg – Kunst im Castello di Avio
Das Castello gehörte über Jahrhunderte fast ununterbrochen der Adelsfamilie Castelbarco, die die Festung im Mittelalter zu einem kleinen Feudalhof ausbaute – ein Rückzugsort, der bald von Künstlern, Intellektuellen und Reisenden frequentiert wurde.
Was einst ein Ort des Austauschs war, lässt sich auch heute noch spüren: Wer das Castello di Avio betritt, steht inmitten einer sorgfältig restaurierten Burganlage, die Geschichte nicht museal konserviert, sondern lebendig macht. Das Gelände rund um die Burggebäude ist in mehrere Terrassen gegliedert, gestützt von alten Steinmauern und gesäumt von Weinreben, Zypressen und dem Blick ins Tal.



Im Inneren entdeckt man eine Reihe außergewöhnlicher Fresken – restauriert, erhalten, teils nur bruchstückhaft. Und doch erzählen sie mit eindringlicher Kraft vom Leben der Ritterzeit. Besonders hervorzuheben sind die Malereien im sogenannten „Liebesraum“ und im Bergfried: Während in letzterem die höfische Liebe im Zentrum steht, wird im ersteren das Kriegshandwerk fast feierlich ins Bild gesetzt – mit filigranen Verzierungen und Szenen aus dem 14. Jahrhundert.
Im berühmten Saal der Liebe etwa reitet die personifizierte Liebe auf einem ungestümen Ross, zwischen Pfeilen, die gezielt die Herzen einer elegant gekleideten Dame und eines sehnsuchtsvollen Ritters durchbohren. Der Raum vibriert förmlich vor Rhythmus, Emotion und mittelalterlicher Sinnlichkeit.
Harte Schatten, weiches Licht – fotografisch unterwegs in Avio
Ich war gegen elf Uhr dort, in der Glut des Tages. Der Aufstieg war schweißtreibend, der Pfad steinig, die Sonne unbarmherzig. Keine Idealbedingungen – zumindest nicht aus fotografischer Sicht. Das Licht stand hoch, war grell, hart. Schatten fielen wie ausgeschnitten auf Mauern und Wege. Doch je näher ich der Burg kam, desto mehr wich der technische Blick einem anderen.
Der Trentino zeigte sich in jener flimmernden Klarheit, die gar keine Klarheit ist. Ein feiner Dunst hing über dem Tal, ließ das Etschtal weich erscheinen – nach Süden wie nach Norden. Die Farben: ein Mosaik aus beige, ocker, verblasstem Grün. Nicht das satte Licht des Nordens, eher ein diffuses Leuchten. Und dann: die Zypressen, die Weinreben, das sanfte Rascheln. All das beruhigte. Ich stand da, schwitzend, atmend – und war ganz ruhig.
Die Restaurierungsarbeiten am Castello wirkten nahezu abgeschlossen, und doch schien der Ort nicht steril oder glattgebügelt. Die Geschichte lag noch da, in jeder Fuge, unter jedem Ziegel. Für einen Moment legte ich die Kamera beiseite – nicht, weil es nichts zu fotografieren gab, sondern weil ich nichts verpassen wollte.
Der Rückweg führte über einen schmalen Pfad ins Tal. Und dann, fast wie ein Geschenk: ein kleines Bächlein, das sich plätschernd durchs Gestrüpp schlug. Ich zog die Schuhe aus, tauchte die Füße ins Wasser. Die Sonne brannte weiter. Aber mein Kopf war kühl.
Reiseplaner
GEO-Daten
45.74646 ∙ 10.95187
Eintritt: 10 EUR
(Stand: 06/2025)
Unterm Strich …
Ob man nun der Geschichte wegen kommt, der Fotomotive wegen – oder einfach nur eine Pause braucht: Das Castello di Avio ist in vielerlei Hinsicht ein lohnenswerter Zwischenstopp. Direkt an der Autobahn gelegen, braucht es keinen großen Umweg, um hier einmal tief durchzuatmen – und vielleicht sogar ein Stück italienischer Vergangenheit zu spüren.
Wer sich für Burgen interessiert, wird die historische Tiefe dieses Ortes schätzen. Wer fotografiert, findet reichlich Stoff: Mauern, Licht, Texturen. Und wer einfach nur auf dem Weg nach Süden ist, dem sei gesagt – die kleine Restauration vor Ort serviert nicht nur Panini, sondern auch eine Portion Ruhe.
Für mich war es mehr als nur ein Stopp. Es war ein Moment des Innehaltens, irgendwo zwischen zwei Welten.
Und genau dafür lohnt es sich manchmal, den Blinker zu setzen.